Interview mit Prof. Dr. Uwe Bittlingmayer, Verbundkoordinator des Projekts "Schule tatsächlich inklusiv" (StiEL)

1. Herr Bittlingmayer, was ist ihre persönliche Motivation, sich mit Fragen der inklusiven Bildung zu beschäftigen?

Meine Motivation hat mehrere Wurzeln. Zum einen komme ich von meiner soziologischen Ausbildung her aus einer recht spezifischen Variante der ungleichheitsorientierten Bildungsforschung, die versucht, die Bildungsungleichheit zu Grunde liegenden Mechanismen zu erklären. Zum anderen wurde mir, als ich zum ersten Mal die Behindertenrechtskonvention1 im Zusammenhang mit dem berühmten Report von Vernor Muňoz2 gelesen habe, deutlich, dass über das Thema der Inklusion von Kindern und Jugendlichen Fragen der Gerechtigkeit im Bildungssystem beinahe schonungslos thematisiert werden können. Ohne in sinnlose Grabenkämpfe nach der richtigen theoretischen Verortung einzutreten. Das Thema hat mich seitdem nicht mehr losgelassen. Die Idee, dass Menschen mit beliebigen Einschränkungen normaler Teil menschlicher Heterogenität sind, und alle Menschen das Recht auf qualitativ bestmögliche Bildung haben, liefert einen ruhigen Maßstab, um Bildungssysteme zu beurteilen. Dieser Maßstab kann die schlimmen Unzulänglichkeiten des deutschen Bildungssystems ins Rampenlicht stellen, ohne auf weitreichende gesellschaftstheoretische Debatten angewiesen zu sein.

2. Wie würden Sie ihr Projekt in einem Satz beschreiben?

Wir haben das ehrgeizige Ziel, Lehrkräfte, die mit Inklusion konfrontiert sind, nachhaltig durch Fortbildungen zu unterstützen. Gleichzeitig untersuchen wir die Effekte der von uns entwickelten Fortbildungen in den Bundesländern Baden-Württemberg, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen für Schülerinnen und Schüler. Wir fragen beispielsweise, ob Mobbingraten von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen zurückgehen oder ob sich das Klassenklima – trotz Inklusion! – verbessert.

3. Sie haben mit verschiedenen Expertinnen und Experten Interviews geführt, um die Fortbildungsbedarfe und Herausforderungen von Lehr- und weiteren pädagogischen Fachkräften zu identifizieren. Was war bislang für Sie die erstaunlichste Erkenntnis?

In unseren Interviews mit Lehrpersonen, Schulleitungen, Schulsozialarbeiterinnen und -sozialarbeitern sowie weiteren pädagogischen Berufsgruppen war das Auffälligste die unglaubliche Bandbreite der Inklusionsverständnisse, Probleme, Herausforderungen sowie der Fortbildungsbedarfe und -wünsche. Gleichzeitig haben wir sehr vielfältige berufsbiographische Erfahrungen, professionelle Selbstverständnisse und spezifische schulformbezogene und einzelschulische Bedingungen festgestellt. Unterm Strich lässt sich sagen, dass es die Lehrperson oder die Schulleitung nicht gibt.
Ein zweiter überraschender Aspekt war der Widerspruch zwischen einerseits inklusionsbezogenen Fortbildungserwartungen und andererseits sachlichen Erfordernissen und realistischen Möglichkeiten – oft auch bei ein und derselben Lehrperson. Lehrkräfte erleben Inklusion als so herausfordernd, vielfältig und schwierig, dass sie sich überwiegend mehrtägige, längerfristige, kontinuierliche Fortbildungen in Teams wünschen – am besten mit praxisbegleitenden Elementen. Allerdings sehen sie gleichzeitig kaum eine Möglichkeit, tatsächlich an solch umfangreichen Fortbildungen teilzunehmen. Zusätzlich zu den üblichen schulalltäglichen Belastungen, den zahlreichen zu bewältigenden schulischen Neuerungen und Aufgaben, der Vereinbarkeit mit Familie und Freizeitinteressen…

4. Im Projekt entwickeln Sie auch ein Fort- und Weiterbildungskonzept, das dann direkt in Schulen eingesetzt werden kann. Welche Auswirkungen erhoffen Sie sich davon langfristig? Und was tun Sie/können Sie tun, dass die Schulen das Konzept wirklich zum Einsatz bringen?

Unser Ziel ist es, in die drei Bundesländer hineinzuwirken: Indem wir beispielsweise unsere Forschungsergebnisse unmittelbar in die Lehramtsausbildung einfließen lassen und die Studierenden damit konfrontieren. Oder indem wir die Fortbildungsangebote in unser vom Zentrum für Lehrerfortbildung (ZELF) durchgeführtes Programm systematisch mit aufnehmen. Unser Erfolg wird dabei natürlich aber vor allem von den finanziellen Möglichkeiten abhängen, die uns zur Verfügung stehen.

5. Sie arbeiten in verschiedenen Bundesländern. Sehen Sie Unterschiede, wie inklusive Bildung dort umgesetzt wird? Und was heißt das für Ihr Projekt?

Die Unterschiede zwischen den drei Bundesländern sind sehr offensichtlich! Zunächst was die bildungspolitische Begleitrhetorik betrifft: Brandenburg steht hier besonders fortschrittlich und geschlossen hinter die Idee von Inklusion. Das macht es für das StiEL-Projekt deutlich einfacher zu agieren. Baden-Württemberg priorisiert das Elternwahlrecht, erhält dadurch ein Doppelsystem aufrecht und agiert aufgrund dessen bei allen sonderpädagogischen Förderschwerpunkten extrem halbherzig. Nordrhein-Westfalen rudert nach der politischen Wende stark zurück und hat beispielsweise in einer der ersten öffentlichen Stellungnahmen die bestehenden Förderschulen wieder unter „Artenschutz“ gestellt. In unseren zahlreichen Interviews spiegeln sich diese Differenzen aber erstaunlich wenig wider. Das liegt sicher auch daran, dass bildungspolitische Vorgaben immer wieder an einer im Kern konservativen Schulpraxis abprallen. Wir registrieren das in unserem Projekt, ohne die Möglichkeit zu haben, an diesen Verhältnissen etwas nachhaltig ändern zu können.

6. Was ist aus Ihrer Sicht die größte Herausforderung, um inklusive Bildung an Schulen umzusetzen? Und was bedeutet das für Ihr Projekt?

Geld und Personal sind die beiden Schlüssel, um Inklusion im Bildungssystem vernünftig verankern zu können. Wenn in jedem Klassenzimmer zwei bis vier gut ausgebildete Pädagoginnen und Pädagogen sowie weiteres Personal vorhanden sind, kann man die Fortschritte, die in den letzten zehn Jahren in der Fachdidaktik erzielt worden sind, überhaupt erst umsetzen. Aktuell ist das kaum möglich: Lehrpersonen in der Regelschule stehen zum Beispiel erheblich unter Druck, wenn sie die realistische Einschätzung abgeben, dass Kinder mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen in den Regelschulklassen unter den aktuellen Bedingungen nicht optimal gefördert werden können. Und damit der Rechtsanspruch auf eine qualitativ hochwertige Bildung nicht eingelöst wird. So eine Aussage läuft Gefahr unmittelbar unter Ideologieverdacht gestellt zu werden. Das freut dann wieder die Gegenseite, die sich auf dieser Grundlage als Retterin der Interessen des pädagogischen Personals aufspielen kann. Das alles liefert keine Basis für Inklusion im Bildungsbereich. Es muss unendlich viel reformiert werden. Zum Beispiel die Besoldungsgruppierung: Das pädagogische Personal in Kitas und der Tagespflege verdient etwa deutlich weniger als eine Grundschullehrkraft und die wieder weniger als das pädagogische Personal im gymnasialen Lehramt. Das ist schlicht und einfach nicht nachvollziehbar. Des Weiteren müssen – gemeinsam mit eingeschränkten Kindern und Jugendlichen – bauliche Maßnahmen entwickelt sowie die Lehrpläne und die Lehr- und Lernmethoden reformiert werden. Dringlich ist außerdem die Frage nach beruflichen Optionen eines inklusiven Bildungssystems für alle Schülerinnen und Schüler. Kinder und Jugendliche lediglich in allgemeinen Bildungseinrichtungen zu platzieren, ist keine Inklusion. Viele haben den Einwand, dass das alles viel zu teuer und unrealistisch ist. Inklusion braucht aber Zeit! Die Radikalität, die mit Inklusion verbunden ist, macht vielen Akteuren Angst. Hier könnte es hilfreich sein, Menschenrechte im Rahmen einer inklusiven Pädagogik systematischer zum Thema zu machen. Auch könnte es helfen, wenn Inklusion in stärkerem Maße als eine selbstverständliche Aufgabe guter allgemeiner Didaktik und Pädagogik verstanden würde – und weniger stark als eine sonderpädagogische Aufgabe.

Fußnoten:
1. Anmerkung der Redaktion: Das „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen“ (UN-Behindertenrechtskonvention) wurde im Jahr 2009 von Deutschland unterzeichnet. Deutschland verpflichtet sich dadurch, die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigung und Behinderung an Bildung in jedem Lebensalter zu ermöglichen.
2. Anmerkung der Redaktion: 2006 besuchte Prof. Dr. Vernor Muñoz Villalobos im Rahmen seiner Länderbesuche Deutschland. Der Deutschlandbericht des UN-Sonderberichterstatters zum Recht auf Bildung auf Basis dieses Besuchs wurde im gleichen Jahr veröffentlicht. In diesem wird Deutschland der Menschenrechtsverletzung in Bildungsfragen angeklagt.
 

Uwe Bittlingmayer

Uwe Bittlingmayer

Prof. Dr. phil. Uwe Bittlingmayer ist Professor für Allgemeine Soziologie mit Schwerpunkt Bildungssoziologie an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Seine Forschungsinteressen liegen unter anderem in der empirischen Bildungs-, Ungleichheits- und Gesundheitsforschung sowie der Soziologie der Inklusion. Prof. Bittlingmayer ist Verbundkoordinator des BMBF-geförderten Projekts „Schule tatsächlich inklusiv – Evidenzbasierte modulare Weiterbildung für praktizierende Lehr- und andere pädagogische Fachkräfte (StiEL)“.