Interview mit den Projektbeteiligten des Verbundprojekts „Gelingen! Gemeinsam lernen in und für inklusive(n) Bedingungen im Kindergarten"

1. Was ist ihre persönliche Motivation, sich mit Fragen der inklusiven Bildung zu beschäftigen?

Cornelia Wustmann: Seit Längerem beschäftigen Anke Karber und ich uns mit Fragen der didaktischen Gestaltung von Ausbildungsgängen. Dabei stellen wir immer wieder fest, dass pädagogische Fachkräfte in ihrer alltäglichen Praxis anspruchsvolle Erwartungen erfüllen müssen. Eine dieser Erwartungen ist eine gelungene Inklusion aller Kinder in Kindertageseinrichtungen. Diese Anforderungen spiegeln sich jedoch weder in der didaktischen Forschung, noch in den Ausbildungsgängen von Erzieherinnen und Erziehern an verschiedenen Lernorten wie Universitäten, berufsbildenden Schulen und Kindertageseinrichtungen wider. Wir möchten mit unserem Projekt daher eine Forschungslücke der didaktischen Forschung schließen, indem wir neue Ausbildungsszenarien erproben und diese gemeinsam mit allen Projektbeteiligten reflektieren. Darüber hinaus wollen wir über Fachtagungen, ein Werkbuch und einen Begleitfilm den Inklusionsgedanken in den Ausbildungsgängen etablieren.

2. In einem Satz formuliert: Worum geht es in Ihrem Projekt?

Mirjam Christ & Vanessa Mertens: Im Projekt „Gelingen!“ erproben wir gemeinsam mit Lehrkräften und (angehenden) Erzieherinnen und Erziehern, wie das Prinzip des Forschenden Lernens in der Ausbildung eingesetzt werden kann. Die Auszubildenden lernen dadurch, sich kritisch mit dem Thema Inklusion im pädagogischen Alltag auseinanderzusetzen.

3. Als Sie angehende Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte sowie Fachberaterinnen und -berater zu ihren subjektiven Perspektiven und Meinungen zur 3. Als Sie angehende Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte sowie Fachberaterinnen und -berater zu ihren subjektiven Perspektiven und Meinungen zur Inklusion befragt haben – was war für Sie bislang die erstaunlichste Erkenntnis?

Mirjam Christ & Vanessa Mertens: Erstaunt haben uns die unterschiedlichen Zugänge insbesondere der angehenden Erzieherinnen und Erzieher zu Inklusion. Einige kannten den Begriff nicht und hatten mit Inklusion noch nie etwas zu tun. Andere sprachen in den Interviews zu Beginn ihrer Ausbildung bereits von gleichberechtigter Teilhabe, alltagsintegrierter Förderung und stellten vertiefende Fragen zur Inklusion. Diese verschiedenen Ausgangsbedingungen können wir effektiv in der Ausbildung nutzen, um wieder ganz neu Fragen an Inklusion, ihre Ziele und vor allem ihre praktische Umsetzung zu stellen und gemeinsam zu beantworten. 

Um unterschiedliche Perspektiven aus der Praxis auf das Thema zu erheben, haben wir für unsere Interviewstudie Erzieherinnen und Erzieher aus inklusiven/integrativen und nicht-integrativen Einrichtungen befragt. Bei der Auswertung überraschte uns, dass auch Mitarbeitende aus den nicht-integrativen Kindertagesstätten häufig von Kindern mit motorischen und geistigen Einschränkungen oder anderen Erstsprachen erzählten. Zudem erstaunte uns, dass sich diese Fachkräfte bemühten, ein Kind mit einer chronischen Erkrankung aufzunehmen und sich dafür sogar intern fortbildeten. Diese Beispiele zeigen deutlich, dass sich die Praxis längst mit Inklusion auseinandersetzt. Umso wichtiger ist es, Erzieherinnen und Erzieher bereits in ihrer Ausbildung darauf vorzubereiten, dass sie später in ihren Teams sowie in ihrem Handeln den Inklusionsgedanken verankern und nicht nur intuitiv anwenden.

4. Sie entwickeln im Projekt neue Formen des Lehrens und Lernens von inklusiven Kompetenzen, die in der Ausbildung von pädagogischen Fachkräften eingesetzt werden können. Welche Auswirkungen erhoffen Sie sich davon langfristig?

Cornelia Wustmann: Langfristig kann Inklusion nur gelingen, wenn mindestens drei Aspekte berücksichtigt werden:
Wir bieten mit unseren Forschungsergebnissen und deren gezielte Verbreitung erstens Anregungen, die weitere Transferprozesse zwischen Theorie und Praxis an Fach- und Hochschulen ergänzen können. Denn die „Einheit von Forschung und Lehre im Humboldt‘schen Sinne ist nicht nur ‚so eine Idee‘, sondern hat für die Etablierung von Gegenständen der Forschung (…) eine konstituierende Wirkung“, so die Bildungssoziologin Ursula Rabe-Kleberg.

Zum Zweiten ist es wichtig, dass ein weiter Inklusionsbegriff entsprechend der UN-Behindertenkonvention gedacht und gelebt wird. Denn Kinder sind gänzlich unterschiedlich bei-spielsweise aufgrund ihrer sozialen Herkunft und Erstsprache, ihres Geschlechts, ihrer körperlichen und geistigen Verfassung und ethnischen Zugehörigkeit, ihrem kulturellen Hintergrund oder ihrer Religion. Sie unterscheiden sich auch hinsichtlich ihrer persönlichen Interessen, Vorlieben, Beziehungserfahrungen und Lernmöglichkeiten. Es soll also nicht nur eine Facette (beispielsweise eine Behinderung) wahrgenommen, sondern das Kind in seiner Gesamtheit betrachtet werden.
Dritter Aspekt einer gelungenen Inklusion ist, immer wieder nicht-inklusive Rahmenbedingungen zu hinterfragen und eigenes pädagogisches Handeln zu reflektieren. Dazu gehört auch, pädagogische Inhalte und Realisierungsmöglichkeiten mit Blick auf Inklusion kritisch zu beleuchten.

5. In Ihrem Projekt entwickeln Sie auch eine Online-Lernplattform. Bestandteil dieser Plattform sind selbst erstellte Lehrfilme. Welchen Nutzen versprechen Sie sich von dem Einsatz digitaler Medien für das Projekt?

Mirjam Christ & Vanessa Mertens: Da unser Projekt mehrere Forschungsbeteiligte und Lernorte miteinander verbindet, wird die Zusammenarbeit durch die Online-Lern- und Kommunikationsplattform „moodle“ unterstützt. Die Plattform stellt virtuelle Kursräume zur Verfügung. Jeder Kursraum kann individuell für geschlossene Gruppen eingerichtet werden. Die Lernplattform enthält neben Fachtexten zum Thema Inklusion, auch wissenschaftliche Anleitungen. Sie bietet die Möglichkeit, Informationen auszutauschen sowie Texte und Forschungsfragen orts- und zeitunabhängig zu bearbeiten. Wir interessieren uns für die technischen Möglichkeiten der Plattform, die didaktische und methodische Gestaltung und das Nutzungsverhalten aller Beteiligten und fördern gleichsam die digitalen Kompetenzen der Auszubildenden. Diese lernen zum einen, selbstorganisiert und mobil zu arbeiten, zum anderen können die beteiligten pädagogischen Fachkräfte, Fachberaterinnen und -berater, Lehrkräfte und Forschenden sich untereinander beraten.

Im Projekt entsteht außerdem ein Film mit allen Projektbeteiligten. Dieser beschäftigt sich mit der Frage, was von einzelnen Akteurinnen und Akteuren unter Inklusion verstanden wird und welche Vorteile, aber auch Herausforderungen aus ihrer Sicht bestehen. Es soll auch darüber gesprochen werden, was Erzieherinnen und Erzieher brauchen, um inklusiv arbeiten zu können und wie sie in der Ausbildung darauf vorbereitet werden können. Der Film kann einerseits als Einstieg und Anregung zum Thema Inklusion im Unterricht oder in Fortbildungen genutzt werden. Andererseits kann er Lehrenden und Fachberaterinnen und -beratern dazu dienen, Lehr- und Lernsettings für Inklusion weiterzudenken und zu gestalten. Wir zeigen den Film auf einem Symposium zum Ende der Forschungszeit an der Technischen Universität Dresden. Im Anschluss stellen wir den Film interessierten Aus-, Fort- und Weiterbildungseinrichtungen zur Verfügung.

6. Was ist aus Ihrer Sicht die größte Herausforderung, um inklusive Bildung im Kindergarten umzusetzen? Und was bedeutet das für Ihr Projekt? 

Anke Karber: Eine inklusionsorientierte Gestaltung des Kindergartenalltags benötigt einen kritisch-reflexiven Umgang mit Diversität. Die UN-Behindertenrechtskonvention und die UN-Kinderrechtekonvention fordern ein grundlegendes Umdenken ein. Bildung, Betreuung und Erziehung müssen sich den Bedürfnissen und Interessen aller Kinder anpassen. Hierfür ist es notwendig, dass sich die Gesellschaft verändert und die Rahmendbedingungen für Kindergarteneinrichtung weiter verbessert werden. Im pädagogischen Alltag muss es wiederum um einen reflexiven und anerkennenden Umgang mit allen Kindern gehen. Wir verstehen inklusive Bildung dabei als einen andauernden und gemeinsamen Prozess. Für diesen Prozess müssen alle bereit sein, die (eigene) pädagogische Praxis zu reflektieren, eigene Einstellungen zu hinterfragen und Rahmenbedingungen für inklusive Bildung kritisch zu prüfen. Für unser Projekt bedeutet das, dass wir ein breites Verständnis inklusiver Bildung in der Ausbildung der Erzieherinnen und Erzieher etablieren und ihre Beobachtungs- und Reflexionsfähigkeit stärken möchten.

Prinzip des Forschenden Lernens

Beim Forschenden Lernen entwickeln die Forscherinnen und Forscher selbstständig eine für sie relevante Fragestellung oder Annahme. Sie suchen nach Antworten mithilfe verschiedener Methoden. Sie gestalten selbst den Forschungsprozess, bereiten ihre Ergebnisse auf und präsentieren diese. Lernen wird dabei als ein ergebnisoffener und dynamischer Prozess verstanden, der an allen (Lern-)Orten stattfinden kann.

Gruppenfoto der Beteiligten des Projekts "Gelingen"

Die Bildrechte liegen bei den Beteiligten

Die Beteiligten im Forschungsverbund „Gelingen“ (von links nach rechts): Prof‘in Dr. Cornelia Wustmann, Mirjam Christ, M.A. (beide Technische Universität Dresden), Vanessa Mertens, M.Ed. (Technische Universität Dortmund) und Prof‘in Dr.in Anke Karber (Leuphana Universität Lüneburg)