Musizieren per Augenbewegung

Spezifische Musik-Apps erleichtern Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit komplexen Behinderungen den Zugang zu kultureller Bildung

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Luca hört gerne Musik, am liebsten die Metallband Rise against, die er durch seinen Bruder kennengelernt hat. Das erzählt er mithilfe eines sogenannten Talkers, der eingegebenen Text in gesprochene Sprache umwandelt. Heute hört er aber nicht nur Musik, er probiert digitale Apps auf einem Ipad aus, um selbst Musik zu machen. Das ist für den Teenager nämlich nicht so einfach, wie für die meisten Jugendlichen in seinem Alter. Luca kann nicht mit dem Mund sprechen und sitzt im Rollstuhl. Auch seine Arme kann er nur eingeschränkt bewegen. Aber wie fast jedem Teenager ist Musik ihm wichtig und mithilfe neuer Musik-Apps kann er nun auch selbst Töne und Melodien erzeugen – sogar nur per Augenbewegung.

Forschung für eine inklusive Musikpädagogik

Zu seinen musikalischen Vorlieben haben Luca Forschende des Projekts „be_smart“ interviewt. In ihrem Projekt wollen sie herausfinden, welche Rolle Musik im Leben komplex behinderter Jugendlichen spielt und wie digitale Musiziermedien dazu beitragen können, dass sie an kultureller Bildung teilhaben können. Denn Musik-Apps lassen sich gut an unterschiedliche Bedürfnisse anpassen und ermöglichen so ein Zugang zu Musik, den es ohne die Geräte und Apps nicht gäbe. Neben Sensortechnologien, die Körperbewegungen in Klänge übersetzen können und sogar aus Pupillenbewegungen Klang erzeugen können, bieten die Apps beispielsweise auch Visualisierungen von Klängen an und lassen animierte Farbverläufe und Formen entstehen. Im Bereich inklusiver Musikpädagogik werden sie aber bislang wenig genutzt und sind kaum erforscht. Das wollen die Forschenden im Projekt „be_smart“ ändern, indem sie die Grundlagen für konkretere Handlungsanweisungen erarbeiten. In vier Phasen haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Interviews aus verschiedenen Perspektiven geführt und das gemeinsame Musizieren von Schülerinnen und Schülern und Projektbeteiligten mit digitalen Musiziermedien gefilmt.

Digitales Musizieren aus vier Blickwinkeln

„In den ersten Projektphasen hatten wir Kinder und Jugendliche im Blick, die in der Regel komplexe motorische Beeinträchtigungen hatten. Teilweise hatten wir Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störung und zusätzlichen kommunikativen Beeinträchtigungen dabei, aber auch Jugendliche mit kognitiven Beeinträchtigungen. So ergibt sich ein ganzes Paket von Bildungsherausforderungen, das Lehrkräfte schnell an Grenzen bringen kann, da sie einen sehr differenzierten Unterricht gestalten müssen, um den betroffenen Jugendlichen gerecht zu werden“ erklärt Projektleiterin Prof. Dr. Imke Niediek von der Leibniz Universität Hannover. Sie arbeitet gemeinsam mit ihrer Kollegin Prof. Dr. Juliane Gerland und deren Team an der FH Bielefeld im Projekt „be_smart“. Das Team in Hannover widmete sich dabei den Jugendlichen, Fokus des Bielefelder Teilprojekts waren Lehrkräfte. Die Forschenden wollten herausfinden, wie Musik-Apps dazu beitragen können, dass ganz unterschiedliche Kinder und Jugendliche gemeinsam musizieren. Denn digitale Musiziermedien haben viele Vorteile: Sie sind leicht verfügbar, im Vergleich zu klassischen Instrumenten sehr günstig und können auch mit körperlicher Einschränkung bedient werden.

Wie sie aber momentan in der inklusiven Bildungspraxis genutzt werden, können nur Expertinnen und Experten beantworten. Daher haben die Forschenden neben den Sessions mit behinderten Kindern und Jugendlichen auch Telefoninterviews und Gruppendiskussionen mit Musikpädagoginnen und -pädagogen, Expertinnen und Experten der inklusiven kulturellen Bildung sowie im Bereich der App-Musik geführt. In der letzten Projektphase standen digitale Musiziersessions in Klassen auf dem Programm, die pandemiebedingt ausfallen mussten. Stattdessen haben Lehramtsstudierende der Sonderpädagogik zusammen mit Jugendlichen einer Förderschule an Musikprojekten gearbeitet. „Da sind Videoclips entstanden, wo die Schülerinnen und Schüler wirklich ganz tolle Einblicke in ihr Leben gegeben haben. Sie haben zu Hause eigene Videospiele gefilmt und dann mit selbstgemachter Musik hinterlegt, haben gerappt, haben gesampelt. Es sind also wirklich tolle Stücke geworden“, berichtet Imke Niediek begeistert.

Kinder und Jugendliche mit komplexen Behinderungen sichtbar machen

Besonders wichtig war allen Forschenden im Projekt „be_smart“, die betroffenen Kinder und Jugendlichen sichtbar zu machen, als ganz regulären Bestandteil des Bildungssystems: „Wir denken bei inklusiver Bildung an alle möglichen Jugendlichen, aber nicht an jene, die besonders eingeschränkt sind durch körperliche oder kognitive Beeinträchtigungen. Aber diese Apps sind für uns alle neu und wenn wir Jugendliche mit komplexen Behinderungen direkt einbinden, dann merkt man, dass das möglich ist.“

In diesem Kontext war für die Forschenden besonders spannend, welche Rolle Musik im Alltag der Kinder und Jugendlichen spielt. Ganz wichtig sei hier – wie auch bei Luca – der familiäre Zusammenhang, aus dem heraus Musik erlebt, erfahren und genutzt wird. Aber auch wie sie mit Musik umgehen zeigte sich ganz individuell. Teilweise bauten die Jugendlichen sich Datenbanken mit Musikstücken in ihren Sprachcomputern auf, andere nutzen lieber visuelle Apps, in denen Farben und Klang miteinander verbunden werden. Ganz deutlich wurde vor allem: „Musik spielt im Leben der Jugendlichen eine sehr wichtige Rolle und ist auch mit ganz individuellen Geschichten verknüpft. Das hat mich sehr beeindruckt“ so Imke Niediek. Auf individueller Ebene eröffne digitale Musik und vor allem das Internet den Kindern und Jugendlichen mit Behinderung eine neue Welt. Die Forschenden sind sich einig, dass die digitalen Medien hier großes Potenzial haben. Denn Jugendlichen, die physisch und kommunikativ beeinträchtigt sind, eröffnet sich über die digitalen Medien und das Internet eine viel größere soziale Welt. „Sie sind Teil einer Community und können sich austauschen, das ist in der Realität für sie oft viel schwerer“ sagt Imke Niediek.

Individuelle Begabung fördern oder gemeinsame Verbindung schaffen?

Die große Herausforderung für die Forschenden bestand schließlich darin, die verschiedenen Perspektiven der Jugendlichen sowie der verschiedenen Expertinnen und Experten wieder zusammenzuführen. Obwohl die Corona-Pandemie das Projekt um ein Jahr in Verzug gebracht hat, ist Imke Niediek zufrieden mit dem Projektergebnis: „Was für uns eine ganz zentrale Erkenntnis ist, ist dass die Potenziale dann genutzt werden können, wenn es den Lehrkräften gelingt, ein gemeinsames Verständnis von digitalen Medien, Inklusion und Musikbildung zu entwickeln.“ Denn oft ist es so, dass Kinder und Jugendliche mit Förderbedarf das digitale Instrument nur als schlechteren Ersatz für das „gute“ Instrument bekommen, das für die anderen Schülerinnen und Schüler bestimmt ist. Diejenigen mit Behinderung werden so als weniger kompetent wahrgenommen. Wichtig wäre aus Sicht der Forschenden aber, dass Musikpädagoginnen und -pädagogen auch das Ipad als vollwertiges Musikinstrument für alle Schülerinnen und Schüler einsetzen.

Nur durch diesen unkonventionelleren musikpädagogischen Ansatz kann auch der Umgang mit digitalen Medien sich verändern. Das ist oft eine Frage der Herangehensweise: „Ganz häufig wird es in der Öffentlichkeit so wahrgenommen, als seien gerade die künstlerisch-musischen Fächer sehr geeignet für inklusive Bildungsprozesse. Wenn man aber ein bisschen genauer hinschaut, dann sind genau diese Fächer oft hoch kompetitiv und es geht sehr viel um Talent, ums Üben, um Leistung. Wir haben im Projekt deutlich gemerkt, dass es für viele Lehrkräfte schwierig ist, inklusive Bildung als Chance zu verstehen, um auch versteckte Talente zu erkennen und unkonventionelle Wege für musikalische Bildung auszuprobieren“, erklärt Imke Niediek. Denn im Projekt haben die Jugendlichen gezeigt, wie viel sie bereits über Musik wissen und dass es ihnen schnell gelingt, dieses Wissen im Umgang mit den Apps für eigene Musikstücke zu nutzen.

Nutzen der Forschung für die inklusive musikpädagogische Praxis

Aber Niediek kann auch die Kritik an Musik-Apps nachvollziehen: „Wenn ich mir so eine Musik-App anschaue, dann habe ich natürlich auf den ersten Blick ein Medium, das ganz stark durch Algorithmen und teilweise auch durch Künstliche Intelligenz vorgeprägt ist. Da kann sicherlich der Eindruck entstehen, dass die Kompetenz des Künstlers oder der Künstlerin überhaupt nicht mehr notwendig ist.“ Die Apps nehmen den Nutzerinnen und Nutzern in der Tat eine ganze Menge ab: Man kann wenig falsch machen und das Ergebnis klingt meistens gut. Das erleichtert den Einstieg. „Aber eben auch nur für den Anfang. Wer tiefer einsteigen möchte, muss sich auch intensiver mit den Apps auseinandersetzen und erschließt sich neue Kompetenzen“, stellt Niediek klar.

Die Forschenden sehen nach Abschluss ihres Projekts einen deutlichen Mehrwert im digitalen Musizieren. „Wenn es uns gelingt, das stärker zu kommunizieren und zu verdeutlichen, dann steckt da ein großes Potenzial dahinter, wie wir gemeinsame musikalische Bildungsprozesse gestalten können“, resümiert Imke Niediek. Perspektivisch wollen die Forschenden Materialien entwickeln, die zeigen, wie Lehrende digitale Medien im Unterricht so einsetzen können, dass alle Schülerinnen und Schüler profitieren. Außerdem erarbeitet das Team Weiterbildungen für Lehrkräfte, um frühzeitig dort Barrieren abzubauen wo sie entstehen: im Kopf.

Weitere Infos zum Projekt und verschiedenen Musik-Apps gibt es hier und im EBF-Themenfinder

Portrait Prof. Imke Niediek

Imke Niediek ist Professorin am Institut für Sonderpädagogik an der Universität Hannover. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der Weiterentwicklung qualitativer Forschungsmethoden im Kontext so genannter geistiger Behinderung, Interaktions- und Partizipationsprozessen in mixed abled Gruppen und der Unterstützten Kommunikation. Prof. Niediek ist Verbundkoordinatorin des Projekts Bedeutung spezifischer Musik-Apps für die Teilhabe von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit komplexen Behinderungen an kultureller Bildung (be_smart)