Digitalisierungsschub durch Corona?
Bildung in der digitalen Welt
Bildung in der digitalen Welt
Die Corona-Pandemie hat der Digitalisierung im Bildungsbereich einen gewaltigen Schub versetzt: Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler nutzen beispielsweise Schulplattformen und Lernvideos öfter als bisher. Und auch die digitale Infrastruktur an Schulen wird mithilfe des Digitalpakts stetig besser. Das ist eine große Herausforderung für alle Beteiligten, bei der es darauf ankommt, digitale Medien und Bildungstechnologien nachhaltig und ausgewogen in unserem Bildungssystem zu verankern. Wie das aus wissenschaftlicher Perspektive funktionieren kann, erzählt Michael Kerres im Interview. Er ist Professor für Erziehungswissenschaft und leitet das Learning Lab zu „Bildung in der digitalen Welt“ an der Universität Duisburg-Essen. Außerdem leitet er das Metavorhaben zum BMBF-Forschungsschwerpunkt „Digitalisierung im Bildungsbereich“ im Rahmenprogramm empirische Bildungsforschung.
PT: Wo erreiche ich Sie denn heute?
Kerres: Tatsächlich im Homeoffice, wie seit einiger Zeit.
PT: Das ist bei den meisten wohl noch der Fall, mal schauen wie sich das die nächsten Monate ändert. Wenn Sie einverstanden sind, können wir direkt beginnen.
Kerres: Natürlich. Ich würde auch gerne direkt auf die Einleitung des Themas reagieren. Denn gerade hinter das Schlagwort „Digitalisierungsschub“ würde ich ein Fragezeichen machen. Ein Punkt der Diskussion, der mir sehr wichtig ist: Natürlich haben wir in der Pandemie erlebt, dass die Schulen, Hochschulen und Bildungseinrichtungen aller Art auf die digitalen Technologien angesprungen sind und aus der Not heraus eine Lösung finden mussten. Aber im Grunde ist meiner Meinung nach sehr ernsthaft die Frage zu stellen: Was passiert nach der Pandemie? Ja, es ist viel ausprobiert worden, es ist viel in Gang gebracht worden. Aber eigentlich sind wir jetzt in einer Phase, in der keineswegs feststeht, was in der weiteren Zukunft passiert. Deshalb ist es mir wichtig, darauf hinzuweisen, das jetzt als einen Prozess zu begreifen, den wir gestalten müssen. Den wir ernsthaft in der Diskussion voranbringen sollten, mit der Frage: Wo wollen wir hin? Was ist uns wichtig? Was sind die Möglichkeiten im Digitalen, um Bildung besser zu machen?
PT: Wir befinden uns ja schon viel länger in diesem sogenannten „digitalen Turn“, als die Pandemie andauert. Was meint man denn genau damit?
Kerres: Auf der einen Seite ist ganz klar, die Digitalisierung durchdringt die Gesellschaft und unsere Lebensbereiche in einer sehr essentiellen Weise. Soziologinnen und Soziologen sprechen auch wirklich von einem Einschnitt unserer gesellschaftlichen Entwicklungen, die mit der Digitalisierung einhergeht. Wir müssen hier jedoch betrachten, dass so ein digital Turn eher eine programmatische Formulierung beinhaltet. Deutschland hat gerade in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Politik, Verwaltung, die sehr nah am Menschen sind, eine große Skepsis. Im Vergleich der Industrienationen und besonders unter den Bedingungen der Pandemie, ist uns das ja in den letzten zwei Jahren sehr deutlich geworden.
PT: Genau deshalb denke ich auch, dass die Pandemie natürlich schon eine gewisse Schubkraft hatte, weil der Bedarf ja vorher schon da war. Und auch das Wissen, dass es wichtig ist, die Digitalisierung ernst zu nehmen und Prozesse umzustellen – gerade im öffentlichen Raum. Man war durch die Pandemie mehr oder weniger gezwungen das zu tun.
Kerres: Die Frage ist nur: Wenn ich etwas unter Zwang tue und der Zwang fällt weg, was tue ich dann? Und ich möchte eigentlich davor warnen anzunehmen, dass wir den digital Turn in der Bildung jetzt haben. Das ist nicht so. Diese Skepsis ist kulturell sehr viel tiefer verankert in Deutschland und wir müssen uns dieser Skepsis einfach auch stellen. Wenn wir Digitalisierung wollen, wenn wir uns bestimmten Entwicklungen anschließen wollen, dann müssen wir das sehr aktiv angehen und mit entsprechend angelegten Förderprogrammen adressieren.
PT: Was ist denn aus Ihrer Sicht der beste Weg? Gibt es da Anknüpfungspunkte an Prozesse, die jetzt angestoßen wurden?
Kerres: Ich glaube, indem wir deutlich machen, es geht uns hier nicht um Digitalisierung an sich, sondern unser ernsthaftes Ziel ist gute Bildung, bessere Bildung, Lösung von Bildungsproblemen, Lösung von gesellschaftlichen Herausforderungen, der Integration, von Teilhabe, der Verbreiterung von Bildungschancen, von Bildungsgerechtigkeit. Nochmal: Ich will nicht einfach noch mehr Computer in der Schule rumstehen haben, das möchte keiner meiner Kolleginnen und Kollegen in der Mediendidaktik. Wir möchten Unterricht besser und anders gestalten. Deshalb müssen wir die Projekte so anlegen, kommunizieren, auswerten und in die Breite tragen, damit deutlich wird: Schaut mal, da passiert etwas, da haben wir Möglichkeiten Unterricht wirklich auf Zielgruppen genauer anzupassen, individueller zu machen, auf bestimmte Herausforderungen besser einzugehen.
PT: Definitiv, dass man nicht nur die Erkenntnisse vorliegen hat, sondern Transfer auch wirklich gelingt. Ich verstehe, dass Sie nicht ein einzelnes Projekt rausgreifen können, aber kann man vielleicht zu den Tools was sagen? In den Medien ist ja immer wieder präsent, dass beispielsweise Schulplattformen verstärkt genutzt werden, dass aber auch Lernvideos einen großen Nutzen haben. Können Sie auf dieser Ebene sagen, wo sie da Potenzial sehen?
Kerres: Der entscheidende Wirkmechanismus ist ja gar nicht das Medium, sondern die didaktische Konzeption. Wir beschäftigen uns zum Beispiel sehr stark mit virtual reality, mit augmented reality. Wir sind da in der beruflichen Bildung unterwegs und sehen ganz spezifische Möglichkeiten, die aber nicht durch die virtuellen Brillen zustande kommen, sondern durch eine didaktische Aufbereitung, die ganz stark eingebettet ist in Lernszenarien in den Ausbildungsbetrieben. Die Verankerung an den Rahmenbedingungen muss gegeben sein, sonst kann so ein Mehrwert gar nicht entstehen.
PT: Haben Sie da ein kurzes Beispiel, was man unter virtual reality und augmented reality verstehen kann in diesem Kontext?
Kerres: Wir haben mit Mercedes Benz, zusammen mit der Universität Potsdam und der Zentralstelle für Weiterbildung im Handwerk ein VR-System für die Ausbildung von Lackiererinnen und Lackierern entwickelt, die in ihrer Ausbildung tatsächlich oft gar nicht so gute Möglichkeiten haben an Objekten zu üben. Wir haben eine virtuelle Umgebung entwickelt, in der mit der Brille die Karosserieteile eingeblendet werden und mit einer nachgebildeten Spritzpistole geübt wird, den Lackauftrag richtig anzubringen. Eine wirklich spannende Idee, die auf ein spezifisches Problem in der Ausbildung eingeht, nämlich dass nicht genug Übungsmöglichkeiten da sind, dass es auch nicht sehr umweltfreundlich ist, mit Lack zu arbeiten, abgesehen davon ist es teuer.
PT: Das klingt auf jeden Fall sehr spannend, würde ich auch gerne mal ausprobieren.
Kerres: Gerne, im Learning Lab – Uni Duisburg-Essen! PT: Ach da kann man das auch machen?
Kerres: Da haben wir eine Testinstallation, in der wir das auch im Labor untersuchen, im Feld untersuchen, bei Partnerbetrieben.Das Learning Lab verstehen wir als einen Ort, an dem wir zusammen mit Partnerinnen und Partnern Dinge im Labor testen und entwickeln und das dann auch vor Ort erproben.
PT: Das ist ein tolles Beispiel aus der beruflichen Bildung. Ich möchte aber auch noch mal auf Schule und Kitas zurückkommen: Gibt es da auch Ansätze, beispielsweise bei den Lernvideos oder anderen Tools, über die Sie sagen: Das ist keine Erscheinung, die in der Pandemie verstärkt aufgetreten ist, sondern da kann man weiter dran arbeiten und das kann ausgewogen mit traditionellen Lehr-Lern-Prozessen funktionieren?
Kerres: Die Erklärvideos sind ein spannendes Phänomen der letzten Jahre. Es ist auch interessant zu sehen, wie sich die Rezeptionsgewohnheiten der Menschen verändern. Wir wissen eigentlich recht viel darüber, was Merkmale von didaktisch gut aufbereiteten Materialien sind. Heute geht es eigentlich mehr um die Frage, wie kann so ein Ökosystem aussehen, in dem Schulserver, Landesbildungsserver, nationale Server solche Materialien angemessen zusammenführen, bereitstellen, auch Qualitätsmechanismen dort sichtbar werden. Aber auf der Infrastrukturebene stehen wir da natürlich vor einer neuen Herausforderung. Früher war es einfach, da gab es die Schulbuchverlage, die haben Materialien hoffentlich gut aufbereitet und bereitgestellt, das war ein etabliertes System. Aber wie jetzt dieser Switch passiert zu diesem neuen Ökosystem von Bildung, das ist ein großes Thema. Da fällt natürlich auch das Schlagwort nationale Bildungsplattform, das einen zusätzlichen Drive reinbringen kann und zusätzliche Vernetzungsmöglichkeiten bietet. Wir sind sehr gespannt, wie wir hier die Dinge voranbringen können. Wir dürfen das jetzt nicht den großen internationalen Firmen überlassen, nicht wegen einer allgemeinen Skepsis gegenüber diesen Betrieben, sondern eher in der Frage: Was sind unsere Anliegen in der Bildung und wie stellen wir uns die Konfiguration eines solchen Ökosystems vor?
PT: Das heißt Sie sehen das auch so, dass Wissenschaft und Bildungspolitik Hand in Hand zusammenarbeiten müssen, um eine Lösung zu finden, die flächendeckend wirkt?
Kerres: Genau, das ist so ein Punkt. Wir sollten überlegen, was für Leitplanken wollen wir da definieren. Wir arbeiten auch international mit Kolleginnen und Kollegen zusammen und sehen hier auch, dass es eine spezifisch europäische Sicht auf diese Dinge gibt, die völlig anders ist als in anderen Kulturräumen.
PT: Inwiefern?
Kerres: Die europäische Sicht – das ist aber eine These von mir – müsste auf einem dezentral föderierten System basieren. Keine zentralistische Lösung also, nach dem Motto: In Berlin steht ein Server und da ist alles drauf. Das ist tatsächlich die Lösung, die in China ganz fundamental vorangebracht wird. Dort werden ganz zentralistisch alle Materialien für alle Bildungseinrichtungen vorgehalten. Diese Lösung, glaube ich, wird uns nicht vorschweben, sondern wir müssen hier vom europäischen Gedanken einer liberalen Demokratie ausgehend eine Struktur schaffen, in der die verschiedenen Akteure in einer definierten Weise zusammenwirken. Wir würden es in Europa auch nicht so wie beispielsweise in den USA einem marktwirtschaftlichen System überlassen, in dem die Firmen Inhalte einspeisen und dann muss sich das irgendwie entwickeln, sondern wir hätten schon Ideen und Leitplanken, wie dieses Ökosystem Bildung eigentlich aussehen könnte.
PT: Was ganz klar wird ist, wie komplex das Thema ist. Wie viele Komponenten zusammenkommen und auch die Ausgewogenheit eine große Rolle spielt, nämlich digitale Medien in den Unterricht einzubinden und dabei Lehr-Lern-Prozesse und das große Ganze im Blick zu behalten. Deswegen würde ich gerne auch noch mal drauf zurückkommen. Die Projekte aus dem Forschungsschwerpunkt „Digitalisierung im Bildungsbereich“ berichten davon, dass mit der Pandemie digitale Bildungstechnologien und Medien lediglich als Ersatz für tradierte Lernformen eingesetzt werden. Die Rede ist vom „strukturkonservativen Rollback“. Wie schätzen Sie das ein?
Kerres: Ich schätze das so ein: Die Pandemie hat uns sehr stark konfrontiert mit der digitalen Technik in allen Bildungssektoren. Es sind viele Schwachstellen deutlich geworden, es ist auch viel investiert worden, es ist aber weitgehend offen, wie die Zukunft der Bildung in diesen Sektoren aussehen wird. Wird traditioneller Unterricht doch einfach fortgeführt, nur jetzt mit diesen verfügbaren Tools? Diesen Weg müssen wir diskutieren. Wir erleben ganz viele gesellschaftliche Umbrüche und Bildung hat die ganz wichtige Aufgabe Gesellschaft auch hier weiterzuentwickeln. Es reicht eben nicht aus, viel Wlan in den Schulen zu haben, mir geht es wirklich um die Frage - und da müssen wir auch die Forschung mitnehmen - wie können wir durch diese Projekte einen Beitrag leisten, um Bildung weiterzuentwickeln.
PT: Das ist ein sehr guter Punkt, Sie haben jetzt mehrfach auch die gesellschaftlichen Entwicklungen angesprochen und Inklusion ist ja auch ein großes Thema. Kann man mit digitalen Bildungstechnologien auch inklusives Lernen gezielt fördern?
Kerres: Theoretisch ja, nur praktisch findet das nicht wirklich statt, würde ich mal als These in den Raum stellen. Das Digitale hat ja genauso auch Exklusionsmechanismen. Durch das Digitale kommt ein neuer Akteur hinzu, der sowohl Inklusionsoptionen eröffnet, aber gleichzeitig auch Exklusionsmechanismen beinhaltet. Das ist auch so ein großes Thema unter dem Label Teilhabe.
PT: Genau in diesem Kontext möchte ich auch noch mal kurz auf das Thema „Homeschooling“ eingehen. Darunter versteht man eigentlich, dass Eltern, die auch die entsprechende Qualifikation mitbringen, ihre Kinder zu Hause unterrichten. Davon konnte ja nicht die Rede sein in der Pandemie. Das ist ein weiterer Exklusionsmechanismus gewesen an dieser Stelle. Mich würde daher interessieren, ob sie Erkenntnisse zu den Auswirkungen haben.
Kerres: Ich möchte noch mal abstrakter formulieren, worüber wir tatsächlich Daten haben. Die Annahme ist ja teilweise gewesen, dass durch die Digitalisierung Bildung leichter zugänglich wäre, dass durch die Digitalisierung ja einfach alles im Internet ist und alle Menschen alles lernen könnten. Die Zahlen dazu zeigen genau das Gegenteil. Durch diese Mechanismen der Bereitstellung von digitalen Medien profitieren vor allem die Leute, die schon viel Bildung haben. Wir können nicht sagen, dass sich aus der Pandemieerfahrung heraus automatisch diese und jene Schritte ergeben werden oder müssen. Wir müssen diesen Diskurs führen. Wo wollen wir hin?
PT: Hiermit haben Sie jetzt schon meine nächste Frage vorweggenommen, nach genau diesem sozioökonomischen Gap, der sich durch digitales Lernen ergibt. Es wird ganz deutlich, wie bedacht man das angehen muss. Man kann eben nicht davon ausgehen, dass jetzt mit diesem Schub die Dinge einfach gut laufen.
Kerres: Im Gegenteil. Wenn wir glauben, dass dieser Schub wirklich stattgefunden hat. Ich würde diesen Begriff auch gar nicht benutzen, sondern in der Forschung redet man bei uns auch eher vom emergency remote teaching. Das war sozusagen eine Notfallreaktion, fertig. Was danach kommt weiß kein Mensch. Wenn wir es wissen wollen, müssen wir es gezielt in die Wege leiten.
PT: Wir haben jetzt ganz viele Punkte und Bereiche angesprochen, die zusammenspielen. Mich würde interessieren, wo sie das größte Potenzial einerseits und die größte Baustelle andererseits in der Digitalisierung im Bildungsbereich sehen?
Kerres: Ich bin natürlich davon überzeugt und auch begeistert davon, dass wir mit den digitalen Medien unglaubliche Möglichkeiten haben, Lernprozesse anders zu gestalten, dass wir Lernprozesse intensivieren können. Dass wir Bildung auch völlig anders organisieren können. Wir können auch aus der Perspektive des lebenslangen Lernens den Menschen Lernangebote ganz anders möglich machen und anbieten. Ich glaube aber auch, dass wir in den Projekten, die wir betreuen und im Metavorhaben unterstützen und die im Learning Lab arbeiten, noch mehr den Fokus drauflenken müssen, solche Mehrwerte auch stark herauszuarbeiten, solche Potenziale auch noch stärker zu kommunizieren.
PT: Vielen Dank für das spannende Gespräch und die interessanten Einblicke. Vielen Dank, Herr Kerres!