Interview mit Meike Rüßeler-Ferguson und Jutta Lebid, Leiterin und ehemalige Leiterin der Integrativen Kindertagesstätte Benefeld

1. Frau Rüßeler-Ferguson, was hat Sie motiviert, an einem Forschungsprojekt mitzuwirken, das die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern hinsichtlich inklusiver pädagogischer Tätigkeiten weiterentwickeln möchte?

Unsere mehr als 20-Jährige integrative Arbeit war in einem ständigen Prozess der Weiterentwicklung. Zum Beispiel die Praxis, Kinder mit Förderbedarf aus dem Spielgeschehen zu nehmen, um ihnen Therapie zukommen zu lassen, war für mich und das Team nicht tragbar. Der Alltag sollte so gestaltet werden, dass Inklusion wirklich gelebt wird und auch der Umgang mit Kindern mit Fluchterfahrung sollte weiterentwickelt werden. In vielen Orten war und ist es immer noch Praxis, Kindern mit Migrationshintergrund oder Fluchterfahrung extra Gruppen am Nachmittag anzubieten. Separation ist vielerorts noch übliche Praxis. Da die weitere Entwicklung von der zukünftigen Generation von Erzieherinnen und Erziehern getragen werden muss, bot sich die Teilnahme an dem Forschungsprojekt natürlich an.

Inklusion ist der konzeptionelle Schwerpunkt unserer alltäglichen Kita-Arbeit. Unser Team ist noch relativ jung in seiner Zusammensetzung. Hierbei haben wir unter anderem festgestellt, wie unterschiedlich das Wissen, die beruflichen wie auch privaten Erfahrungen in der Begegnung und im Umgang mit unserer vielfältigen Gesellschaft sind. In unserem Haus haben wir uns gemeinschaftlich auf den Weg zu einer inklusiven Kita gemacht. Es ist mehr denn je ein Thema, vor dem die Augen nicht verschlossen werden dürfen. Inklusion bedarf einer professionellen wie auch menschlichen Haltung und daraus resultierenden professionellen Handlungen.

2. Hatten Sie, unabhängig vom Forschungsprojekt, bislang Berührung mit inklusionsorientierter Fort- und Weiterbildung?

Im Prozess der konzeptionellen Umstrukturierung zu einer inklusiven Kita hat das Team verschiedene Fortbildungen zum Thema Vielfalt besucht. Die Schwerpunkte waren auch hier breit gefächert aufgestellt. So wurden Kinder mit körperlichen Beeinträchtigungen, wie auch Migrationsfamilien, Patchwork-Familien etc. unter dem Aspekt Vielfalt in den Fokus der Weiterbildungen gestellt.

Konkret in Bezug auf Ihre Einrichtung: Welche inklusiven Kompetenzen müssen Erzieherinnen und Erzieher in der Ausbildung erlernen?

Einen offenen, vorurteilsbewussten Blick auf Menschen mit ihren unterschiedlichen Lebensstilen und Lebensbedingungen entwickeln (lernen) und an der eigenen Haltung arbeiten. Basis für die inklusive Arbeit ist eine grundsätzlich offene und aufgeschlossene Haltung bezüglich der Vielfalt unserer Kitakinder und deren Eltern. Eine gute und wertfreie Beobachtungsgabe, die die Bedarfe und Bedürfnisse der Kinder und Eltern erfasst. Ein kritischer und selbstreflexiver Blick.

Kommunikationsfähigkeit sowohl im Team (hier ist ein intensiver Austausch maßgeblich, um inklusiv arbeiten zu können), mit den Kindern als auch mit den Eltern! Besonders das Kommunizieren mit Eltern findet in der Ausbildung wenig Raum, obwohl es im Zuge der Erziehungspartnerschaften ein so wichtiger Baustein ist.
Eine weitere inklusive Kompetenz ist die Bereitschaft umzudenken, sich von starren Mustern lösen zu können und sich permanent beruflich und fachlich weiterzuentwickeln. Dafür gilt es Konzepte zu entwickeln, die allen Kindern eine Teilhabe ermöglichen. Die Förderung zu den Kindern zu bringen, also keine Untergruppen von förderbedürftigen Kindern bilden.

3. Wo sehen Sie die größten Herausforderungen, um inklusive Bildung in Kitas umzusetzen?

Die größte Herausforderung, um inklusive Bildungsprozesse zu realisieren, ist definitiv die personelle Besetzung. Der gesetzlich vorgesehene Betreuungsschlüssel entspricht nicht den gesellschaftlichen Gegebenheiten. Die Gruppen sind zu groß, die Anforderungen an die Teams steigen ständig und es fällt manchmal schwer, allen Ansprüchen gerecht zu werden. Die Anforderungen des Orientierungsplans obendrauf lassen kaum Gelegenheit/Raum, um die individuellen Bedarfe und Bedürfnisse zu ermitteln und diesen gerecht zu begegnen.
Leider werden dritte Kräfte in den Gruppen nur finanziert, wenn Kinder ein defizitorientiertes Anerkenntnis zur integrativen Eingliederungshilfe bewilligt bekommen. Inklusion als präventive Maßnahme hat im politischen wie im gesamtgesellschaftlichen Blick noch kein Standing. Das Kind muss nach wie vor sprichwörtlich erstmal in den Brunnen fallen. Inklusion ist nicht nur ein Wort und auch nicht nur Haltung, Inklusion braucht auch Rahmenbedingungen wie mehr qualifiziertes Personal, kleinere Gruppen, interdisziplinäre Teams/vielfältige Professionen (Therapeutinnen und Therapeuten, Psychologinnen und Psychologen…).

4. Haben Sie konkrete Anregungen und Wünsche hinsichtlich der Inklusion in Ihrem Arbeitsalltag?

Durch unser offenes Konzept gelingt es uns mit unseren heilpädagogischen Fachkräften und Therapeutinnen und Therapeuten den Kindern in ihrem Alltag zu begegnen und sie zu begleiten. Da sind wir schon auf einem guten Weg. Dies gelingt natürlich nur, wenn das Team seine vorhandene Motivation weiterhin so aufbringt, um mit vollem Engagement den vielzähligen Aufgaben und Herausforderungen zu begegnen. Natürlich würden auch wir uns wünschen, wenn diese personelle Situation nicht von Rezepten und defizitorientierten Eingliederungsmaßnahmen abhängig wäre, sondern eine „Grundausstattung“ für unsere pädagogische Arbeit wäre.
Denn Erzieherinnen und Erzieher müssen mit gesellschaftlichen Entwicklungen Schritt halten und hierfür brauchen sie mehr Zeit für die Vor- und Nachbereitung ihrer Arbeit. Dafür bedarf es Fortbildung und die Möglichkeit zur Reflexion.

5. Was war bislang das größte Erfolgserlebnis, das Sie im inklusiven Kitaalltag erlebt haben?

Es gab in der Arbeit immer wieder Erfolgserlebnisse, die in der Summe die Zufriedenheit mit dem von uns eingeschlagenen Weg ausgemacht haben:

  • die Elternschaft, die zum größten Teil hinter unserem Konzept stand,
  • die Anerkennung unserer Arbeit durch Teams anderer Kitas bei unseren Fortbildungen und
  • die zunehmende Selbstverständlichkeit unserer Kinder im Umgang miteinander, egal ob mit Handicap oder aus einem anderen Kulturkreis.

Interviewpartnerinnen: Meike Rüßeler-Ferguson; Leitung der Integrativen Kindertagesstätte Benefeld und Jutta Lebid, ehemalige Leitung der Integrativen Kindertagesstätte Benefeld

Der Orientierungsplan für Bildung und Erziehung ist die Grundlage für die Bildungsarbeit in Tageseinrichtungen für Kinder wie zum Beispiel hier in Niedersachsen. Mit ihm sollen pädagogische Konzepte in Kitas erarbeitet und weiterentwickelt und Prozesse verbessert werden. Auch ist er Grundlage für die Qualifizierung von pädagogischen Fachkräften. 
Quelle: Niedersächsisches Kultusministerium (2018): Orientierungsplan für Bildung und Erziehung. Gesamtausgabe